The man who fell asleep

Eine lange Weile

Wir sitzen auf einem geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinbahn. Der nächste Zug kommt erst in vier Stunden.
Die Gegend ist reizlos. Wir haben zwar ein Buch im Rucksack - also lesen ? Nein. Oder eine Frage, ein Problem durchdenken ?
Es geht nicht. Wir lesen die Fahrpläne oder studieren das Verzeichnis der verschiedenen Entfernungen dieser Station zu anderen Orten, die uns gar nicht weiter bekannt sind. Wir sehen auf die Uhr - gerade erst eine Viertelstunde vorbei. [...] Was wollen wir eigentlich beim ständigen Auf-die-Uhr-Sehen ? Wir wollen die Zeit nur vorbeihaben. Welche Zeit ? Die Zeit bis zur Ankunft des Zuges.*

In seiner philosophischen Ergründung der LANGEWEILE unterscheidet Martin Heidegger drei verschiedene Formen, das Gelangweilt werden von ..., das im Vergleich dazu wesentlichere Sichlangweilen bei ..., sowie als "Grundstimmung unseres heutigen Daseins" die tiefe Langeweile.
Charakteristisch für die hier relevante erste Form der Langeweile, die Heidegger am Beispiel des Bahnhofs verdeutlicht, sind zwei Strukturmomente, zum einen die Hingehaltenheit des Reisenden durch den zögernden Zeitverlauf, zum anderen ein Leergelassenwerden von den in einer solchen Situation vorhandenen Dingen - z.B. dem Bahnhof.**

 








Wären wir nicht so oberflächlich, frivol, vorlaut und unverschämt, würden wir vor den Erkenntnissen des deutschen Metaphysikers schweigend und nachdenklich verharren.
Dabei langweilen wir uns für eine kurze Weile.
Dann jedoch erinnern wir uns bestimmter Phrasen, die wir bei einem frivolen Franzosen, einem unverschämten Polen oder einer trunkenen Tschechin gehört haben, und gleich beginnt die alte bestialische Maschine wieder zu arbeiten und wir verlassen die Metaphysik:

Fall 1: Gelangweilt werden von ...:
Man steht auf einer Party mit einem Glas Rotwein in der Hand. Ein nettes junges kroatisches Mädchen erzählt von einer Ausstellung in Zürich, die sie gesehen hat. Alle hören aufmerksam zu. Man wird nervös und unruhig.
Es wird unerträglich, weil all ihre Worte völlig bedeutungslos entschwinden. Vor allem entschwindet wertvolle Zeit !
Reaktion A: Man könnte fluchtartig gehen und den Ort verlassen. Aber dann würde man sich vermutlich wieder langweilen.
Reaktion B: Man könnte etwas wirklich Schwachsinniges tun, z.B. sie plötzlich küssen - Noch schlimmer !
Reaktion C: Man könnte ihr kurz zuhören, ein paar Worte über diesen begnadeten Schweizer Konzeptkünstler aufschnappen und dann zum Gaudium aller Anwesenden eine spontane Imitation desselben versuchen.
. Nun ja...wenigstens nicht langweilig.

Fall 2: Sich langweilen bei...:
Es soll ja Leute geben, die bestimmte liebsam gewordene Gewohnheiten pflegen, denen sie sich,
einer zirkulären Logik folgend, in regelmässigen Zeitabständen immer wieder widmen: also etwa: Essen, Trinken, Sex, Radfahren usw.
Man nennt das auch "Hobby".
Fad wird es erst, wenn die Technik (siehe dazu Kapitel "Hobby+Technik II " 01/2007) ihre Perfektion erreicht hat, und die durch Regelmässigkeit erschöpfte Phantasie keine weiteren Anreize mehr findet.
. Dann bleibt man sich selbst und der Langweile überlassen. Eigentlich aber nicht so schlimm, weil man ja immer noch - das Modell - wechseln kann.

Fall 3: Tiefe Langeweile / Leergelassenwerden

Ein ausgesprochen unangenehmer, keineswegs wünschenswerter Zustand, der uns aber trotz allem oberflächlichen Geplänkel immer wieder erfasst. Gleichzeitig aber auch eine ideale Gelegenheit für nüchterne Selbsterkenntnis und Verwirklichung, und vor allem: der Weg zu einem neuen besseren und einsamen Ich.
Doch auch jener durch tiefe Langeweile so geläuterte Geist erliegt - früher oder später - wenig ruhmreichen, trivialen rhytmischen Verführungen - vielleicht weil sie nur kurz verweilen. Später wird man diesen Momenten,
einer zirkulären Logik folgend, langer Zeit gedenken.
. Also, auf und dahin! Zu den Denkmälern..

_________________________________________________________________________________________________
* martin heidegger, grundbegriffe der metaphysik. welt - endlichkeit - einsamkeit, 140 f.
** markus krajewski, restlosigkeit, 44

 









Nr. 13: Bücher und Dirnen

I. Bücher und Dirnen kann man mit ins Bett nehmen.
II. Bücher und Dirnen verschränken die Zeit.
Sie berherrschen die Nacht wie den Tag und den Tag wie die Nacht.
III. Büchern und Dirnen sieht es keiner an, daß die Minuten mit ihnen kostbar sind.
Läßt man sich aber näher mit ihnen ein, so merkt man erst, wie eilig sie es haben.
Sie zählen mit, indem wir uns in sie vertiefen.

IV. Bücher und Dirnen haben seit jeher eine unglückliche Liebe zueinander.
V. Bücher und Dirnen - sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren.
Bücher die Kritiker.
VI. Bücher und Dirnen in öffentlichen Häusern - für Studenten.
VII. Bücher und Dirnen - selten sieht einer ihr Ende, der sie besaß.
Sie pflegen zu verschwinden, bevor sie vergehen.
VIII. Bücher und Dirnen erzählen so gern und so verlogen, wie sie es geworden sind.
In Wahrheift merken sie's oft selber nicht. Da geht man jahrelang "aus Liebe" allem nach und eines Tages steht als wohlbeleibtes Korpus auf dem Strich, was "studienhalber" immer nur darüber schwebte.
IX. Bücher und Dirnen lieben es, den Rücken zu wenden, wenn sie sich ausstellen.
X. Bücher und Dirnen machen viele junge.
XI. Bücher und Dirnen - "Alte Betschwester - junge Hure".
Wieviele Bücher waren nicht verrufen, aus denen die Jugend heute lernen soll!
XII. Bücher und Dirnen tragen ihren Zank vor die Leute.
XIII. Bücher und Dirnen - Fußnoten sind bei den einen, was bei den anderen Geldscheine im Strumpf.

[ Walter Benjamin, 1928 ]